
Viele von uns haben nicht wirklich gelernt, Grenzen zu setzen. Ich bin einer dieser Menschen. Und ich hatte auch Angst davor, Grenzen zu setzen: Angst vor Verlust der Menschen in meinem Leben und der Beziehung zu ihnen, wenn ich „Nein“ sage.
Aus dieser Angst heraus habe ich nicht besonders auf meine Grenzen geachtet, habe sie oft nicht klar kommuniziert oder habe sie zu locker gestaltet:
Ich war nicht achtsam mit mir. Im Gegenzug war ich oft wütend auf mich selbst und hatte ein geringes Selbstwertgefühl. Das führte dazu, dass ich noch weniger in der Lage war, Grenzen zu setzen.
Dann kam die Traumatherapie und mir war klar, meinen emotionalen und psychischen Raum zu schützen, ist essenziell für meine Gesundheit. Und meine Verantwortung! Natürlich geht es auch um körperliche und materielle Grenzen. Mein Fokus in diesem Artikel liegt allerdings auf den mentalen und emotionalen Grenzen. Ich schreibe auch eher von tieferen zwischenmenschlichen Beziehungen (Freundschaften, KollegInnen, Familie, Partnerschaft) und nicht von lockeren Bekanntschaften oder Fremden.
„No“ is a complete sentence.“ – Annie Lamott
„Nein“ ist ein vollständiger Satz.“
Das habe ich auch zu Beginn in der Therapie gelernt. Ganz kurz hatte ich Fantasien von: Ich kann endlich „Nein“ sagen, zu jedem und in jeder Situation! Emotionale Befreiung! Meine Regeln durchsetzen! Zugbrücke hoch und zack: Respekt und Wohlbefinden! Aber ich hatte das wahnsinnige Glück, einen Therapeuten zu haben, der mir mehr beigebracht hat als nur „Nein“. Denn es gibt einen Unterschied zwischen Mauern und Grenzen. Ich habe gelernt:
Grenze als „Ja“ zu mir selbst und nicht als „Nein“ zu Verbindungen. Grenze als Einladung an andere Menschen, mir gutzutun und nicht um eine Mauer um mich zu bauen. Und es gehört auch ebenso dazu, die Grenzen anderer Menschen zu achten.
Natürlich kommt mir auch mal einfach nur ein simples und bestimmtes „Nein Danke“ über die Lippen, wenn mir jemand etwas anbietet und ich möchte es nicht. Wenn ich allerdings in zwischenmenschlichen Beziehungen stets ausschließlich nur das Wörtchen „Nein“ sagen würde, um meine Grenzen aufzuzeigen, würde ich wohl bald keine Verbindungen mehr in meinem Leben haben. Dieses Zitat „Nein ist ein ganzer Satz“ ist für mich eher stärkend gemeint:
Meine Bedürfnisse und Grenzen kennen, sie achten und gleichzeitig dem anderen mitteilen: Ich nehme auch dich wahr.
Für viele Menschen bedeutet „Nein ist ein ganzer Satz“: Ich will mich nicht mehr erklären und rechtfertigen. Ja, das muss niemand! Und ich muss nicht einen Stacheldrahtzaun bauen oder die Axt rausholen, um Grenzen zu setzen oder zu verteidigen.
Wie viele Artikel gibt es eigentlich im Internet zu Grenzen setzen? Das ist ein großes Thema! Und in vielen dieser Artikel ist von toxischen Menschen die Rede, denen wir Grenzen setzen sollen, indem wir uns von ihnen distanzieren. Nach wie vor, finde ich das befremdlich. Substanzen sind toxisch. Menschen sind es nicht.
Ich habe für mich gelernt: Grenzen sind dafür da, für mich selbst zu sorgen UND um Verbindungen zu stärken.
Schuldzuweisungen, nicht an mir arbeiten, Konflikte und unangenehme Gespräche vermeiden und lieber Menschen aus meinem Leben verbannen: Fühlt sich für mich nicht gut an.
Hierbei hat mir auch die Gewaltfreie Kommunikation geholfen. Ich habe gelernt, auf Projektionen zu achten und anderen Menschen nicht mehr die Schuld an meinen Gefühlen zu geben.
Ich gebe gerne zu: Gespräche über Bedürfnisse, Grenzen und über Grenzüberschreitungen sind nach wie vor nicht besonders angenehm für mich. Und das ist wohl eine kleine Untertreibung. Ich bin oft ängstlich vor solchen Gesprächen und habe Bauchweh. Manchmal würde ich wirklich lieber fliehen, die Tür zur entsprechenden Beziehung zuknallen, Kopf in den Sand, dicken Po hoch: Puh! Fertig! Das allerdings ist für mich Mauern errichten und nicht gesunde Grenzen setzen in einem Miteinander.
Auch wenn ich es aus Überforderung oder Hilflosigkeit tun würde: Es wäre nur kurzfristig eine Erleichterung. Daraus lerne ich keinen gesunden Umgang mit mir selbst und anderen. Der Grat zwischen Vermeidung und Selbstschutz ist sehr schmal und ich bin noch auf dem Weg, diesen für mich zu gehen.
Persönliche Entwicklung und Wachstum sind ein Prozess und dieser Prozess schließt auch das Grenzen setzen mit ein.
Solche Gespräche nicht zu führen, führt am Ende nur zu Ärger, Frustration und Leid. Auch im Miteinander.
Ich lerne einen achtsamen Umgang beim Setzen von Grenzen. Dabei ist die Balance wichtig und die sieht für mich so aus:

Fiktives Beispiel:
Eine Freundin ruft mich an und möchte mir von einem Problem in ihrer Beziehung erzählen. Gern würde ich ihr mein empathisches Ohr leihen. Momentan habe ich allerdings nicht die Kraft und die Energie, weil ich selbst viel auf dem Tablett habe. Statt also „Nein!“ Kann ich sagen: „Ich weiß, du bist gerade traurig und aufgewühlt und dir ist die Empathie wichtig. Ich habe heute keine Kraft dazu, dir wirklich zuzuhören.“ Je nachdem, wie ich mich gerade fühle, biete ich vielleicht einen kurzen Spaziergang an. Auch schweigend nebeneinander laufen kann hilfreich. Das würde sich dann im Gespräch ergeben.
Anderes Beispiel:
Eine Kollegin bittet mich um Hilfe. Sie schafft eine Aufgabe gerade nicht alleine. Statt einem knappen „Nein“. Weil ich selbst gerade gestresst bin, kann ich mich gleichzeitig empathisch zeigen: „Ich kann gerade nicht. Ich muss selbst xy bis zum Mittag fertigstellen und bin im Stress. Ich sehe, du brauchst wirklich Hilfe. Nach der Mittagspause habe ich eine halbe Stunde Zeit. Ist das ok für dich?“ Wenn ich überhaupt keine Zeit oder Kraft habe an diesem Tag kann ich das auch kommunizieren.
In meinen Beispielen kann ich hoffentlich vermitteln: Grenzen sind nichts anderes, als auf meine Bedürfnisse zu achten. Und hier ist der erste wichtige Schritt, diese zu erkennen und auch zu benennen. Hier zu erkennen, wo ich mich abgrenzen muss, um mir gutzutun: So wertvoll!
In beiden Beispielen habe ich klar meine Grenzen erkannt, kommuniziert UND habe die Bedürfnisse des anderen Menschen wahrgenommen.
Grenzen setzen bedeutet für mich: Auf meine geistige und körperliche Gesundheit zu achten. Das ist meine Verantwortung! Und gleichzeitig in Verbindungen mit anderen Menschen sein zu können. Das ist nicht: schwarz-weiß. Mauern zum Selbstschutz isolieren mich eher von anderen.
Wenn ich klar meine Grenzen kommuniziere, ist mir auch bewusst: Womöglich ist der andere Mensch verletzt. Ich weiß nicht, wie der andere reagiert. Das liegt bei dem anderen Menschen. Ich kann allerdings von meiner Seite klar machen: Ich setze diese Grenzen nicht, um dein Verhalten zu ändern oder dich zu manipulieren. Ich setze die Grenzen, um gut für mich zu sorgen, auf meine Energie, meine geistige und seelische Gesundheit oder meine Zeit zu achten. Denn dafür bin ich verantwortlich! Gleichzeitig kann ich kommunizieren, dass mir Offenheit, Authentizität und Respekt wichtig sind. Ich auch aus diesem Grund klare Grenzen setze: Für eine gesunde zwischenmenschliche Beziehung! Die mir am Herzen liegt.
Was für mich definitiv auch zum Thema Grenzen setzen gehört: Ich achte die Grenzen anderer Menschen ebenso wie meine eigenen.
Dabei achte ich auch darauf, was ich mir wünsche, auch nach außen zu spiegeln. Die Grenze, die ich für mich setze, halte ich auch bei anderen Menschen ein.
Wenn ich also möchte, dass jemand meine Kraft und Energiegrenzen achtet. Dann gebe ich das genauso zurück! Grenzen im Miteinander sind keine Einbahnstraße.
Das hat für mich sehr viel mit Achtsamkeit und Selbstreflexion zu tun.
Einseitige Grenzen und Regeln sind Mauern und nicht verbindend.
Konsequenzen
Auch die liegen bei mir! Meine Grenzen sind meine Verantwortung!
Wenn ich im Streit jemanden bitte, dass er in einem ruhigeren Tonfall mit mir spricht und der andere es aus welchen Gründen auch immer nicht tut, meine emotionale Grenze erreicht ist. Geht ein: „Ich werde das Gespräch jetzt beenden. Das funktioniert für mich gerade nicht. Lass uns bitte ein anderes Mal weiterreden. Mir ist Respekt wichtig im Miteinander.“
Konsequenz, Mitgefühl, Empathie und Entschlossenheit beim Grenzen setzen. Das schließt sich nicht gegenseitig aus!
Angst vor Konfrontation, Angst vor Verlust, Schuldgefühle: Das kann dazu führen, keine Grenzen zu setzen oder Mauern zu bauen. Es braucht Zeit und vor allem jede Menge Selbstmitgefühl zu lernen, gesunde Grenzen zu setzen und zu kommunizieren. Dieser Prozess liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Menschen und es braucht auch andere Menschen in unserem Leben, mit denen wir das gemeinsam lernen und erleben können.
Ich habe das wahnsinnige Glück, solche Menschen in meinem Leben zu haben. Menschen mit denen ich wachsen kann, wo der Umgang miteinander von Respekt geprägt ist.
Ja, ich habe auch Menschen verloren, seit ich Grenzen setze. Und das tut nach wie vor weh. Gleichzeitig weiß ich, dass es für den Moment gut so ist. Denn meine Grenzen sind ja Selbstfürsorge. Die Tür allerdings habe ich nicht zugeschlagen. Sie ist angelehnt für den möglichen Zeitpunkt, an dem der andere Mensch vielleicht wieder auf mich zukommen möchte. Und meine Grenzen respektiert werden.
PS: Die Zeichnung zum Artikel ist wieder von meiner Freundin Béa. Danke von Herzen dafür! ❤
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